Das ist eine gute Frage, weil sie unser Alltagshandeln in den Blick nimmt. Und falls das Smartphone auch nachts uns nahe sein darf, dann ist die nächste Frage zwangsläufig: warum? Weil wir es lieben. Natürlich. Da noch ein Tweet, ein Reel oder eine Push-Nachricht. Und früh geht’s gleich weiter. Die kritische Reflektion einer solchen Mediennutzung ist dann schon mal ein guter Anfang. Aber ein punktueller, radikaler Verzicht auf das Smartphone bringt nicht viel, wenn man nicht seine Gewohnheiten verändert. Ja, darüber ist schon viel geschrieben worden. Feuilletons, Ratgeberseiten der Krankenkassen und Bücherregale sind voll mit Tipps für die digitale Entgiftung. Wie lässt sich das Thema in unserem Arbeitsbereich angehen?
Entgifte mal!
Nachhaltigkeit und psychosoziale Gesundheit im digitalen Raum sind höchst aktuelle Themen, die auch in der Jugendhilfe, im Schulbereich und in den Familien von großer Bedeutung sind. Vielen setzt der überbordende Medienkonsum gehörig zu. Gerade in einer Zeit, in der die Frequenz schlechter Nachrichten hoch ist und ein Kontrollverlust in der Mediennutzung zu Stress und Unruhe führt, sind Strategien von Digital Wellbeing gefragt.
Neue Studien zeigen deutlich, dass der entgrenzte Konsum schlechter Nachrichten, das sogenannte Doomscrolling, zu gesundheitlichen Schäden führen kann, wie der SPIEGEL jüngst wieder darlegte. So lieferte eine Studie der Texas Tech Hinweise darauf, dass zwischen einem zwanghaften Verfolgen von Nachrichten und Gesundheitsproblemen ein Zusammenhang bestehe. Auf die permanente Nachrichtenflut reagieren wir evolutionär bedingt mit einem Interesse nach Informationen, was uns bedrohen könnte. Wir klicken instinktiv, um uns zu schützen, bewirken aber das Gegenteil. Ein fataler Kreislauf.
Entgifte doch mal! Das sagt sich so einfach, aber für viele ist das eine Herausforderung. Matthias Kreienbrink empfahl in einem TAZ-Artikel Anfang diesen Jahres das „Digitale Ausmisten“. Gute Idee. Darin verweist er unter anderem auf ein Gespräch mit dem Berliner Psychologen Arthur Bohlender, der berichtet, dass viele seiner Patienten mit Überforderung, Erschöpfungszuständen und „Schwierigkeiten, sich noch zu konzentrieren“ zu ihm kommen. Viele dieser Getriebenen hätten ständig das Gefühl, ihre vielen Kanäle pflegen zu müssen. Daher könne eine „Digitale Entrümplung“ gut für das Selbstwertgefühl sein. Wer aufräume, werde aktiv, trenne nützlich von unnützlich, erlange wieder Kontrolle, so Kreienbrink (2022). Die Frage muss gestellt werden: Wo sind wir im Internet präsent? Was tut uns gut? Was ist Last? Wie andere auch empfiehlt Kreienbrink, lästige Profile zu leeren oder löschen. „Accounts zu schließen, Abos zu kündigen. Noch einmal die Blogposts von damals durchlesen, um sie dann der Existenz zu berauben. Vielleicht drei der fünf Social-Media-Präsenzen verschwinden zu lassen, als wären sie niemals da gewesen. Diese Seite von uns, die aufrechtzuerhalten so viel Mühe gekostet hat. Vielleicht bemerken wir ja, dass dieses Grundrauschen, das ständige Surren, etwas leiser wird. Und vielleicht merken wir auch, dass das Internet als solches und das Smartphone, das bei vielen schon mit im Bett liegt, eigentlich viele Annehmlichkeiten bringt. Kein Teufelswerk ist, sondern menschengemacht.“ (Kreienbrink 2022) Auch damit trifft er einen guten Punkt. Denn die Verteufelung moderner Kommunikationstechnologie ist ebenfalls sinnlos.
Ist Abstinenz eine Lösung?
Es wird ja gern Verzicht gepredigt. Aber ist das der richtige Weg, um exzessiver Mediennutzung und Erschöpfung zu begegnen? Zweifel sind hier angebracht. Es scheint, als seien derzeit alle am Trendthema Digital Detox interessiert, aber die Ansätze sind verschieden. Während einige den abstinenten Weg favorisieren, der auf Entzug und Enthaltsamkeit setzt, sind andere davon überzeugt, dass vor allem Souveränität und Medienkompetenz die richtigen Pfade darstellen. Kontext und Motivation der Mediennutzung sind die entscheidenden Kriterien, um das Verhalten beurteilen und ggf. gegensteuern zu können. Worum geht es bei einer exzessiven Mediennutzung? Um Identität. Wer bin ich? Wer möchte ich sein? Warum nutze ich es?
Digitale Identität als Hamsterrad
Unter dem Containerbegriff Digitale Identität lässt sich vieles fassen: ob Netz-Persona mit Social Media Posts, famose Gamerin, App-Junkie oder entgrenzte Reels-Konsumentin – wir setzen uns zu einer medialen Praxis in Beziehung und leben diese. Viele erleben das auch als Kontrollverlust, dem sie ein Management der alltäglichen Mediennutzung entgegensetzen wollen. Es geht aber um die Motivation. Es nützt also wenig, Kindern den Umgang mit den Geräten zu verbieten, sondern es sollte eine Reflektion darüber in Gang kommen.
An dieser Stelle sei wärmstens das Selbstlernangebot zum Thema Digitale Achtsamkeit von Jöran Muuß-Merholz empfohlen. Sein MOOC (Massive Open Online Courses) erklärt in kleinen Infoeinheiten verschiedene Aspekte der Kompetenzentwicklung für einen bewussten und souveränen Umgang mit digitalen Medien. In seiner Einführung nennt er bereits die relevanten Anknüpfungspunkte in diesen Prozessen. Anstelle einer Jammer- und Opferhaltung, so Muuß-Merholz, gehe es um Empowerment –?nicht durch Abschalten sondern durch neue Kompetenzen. Und so sieht das dann aus:
– Problem mit Überforderung und Stress? Arbeiten an Entlastung und Gelassenheit.
– Problem mit Multitasking und Ablenkung? Arbeiten an Konzentration und Aufmerksamkeit.
– Problem mit Sogwirkung oder Sucht? Arbeiten an Emanzipation und Souveränität?
– Problem mit digitaler Vereinnahmung und Manipulation? Arbeiten an Digitaler Unterstützung unserer Souveränität.
FOMO und Dopamin
Das Spektrum der Emotionen, auf die Algorithmen abzielen ist weit. Sie reichen von Glücksgefühlen durch Resonanz bis hin zur Angst, etwas zu verpassen. Eine Handvoll digitaler Plattformen dominiert unsere Mediennutzung mit Apps, die vor allem das Ziel verfolgen, unser „Engagement“ als User zu erhöhen. Nach der scheinbaren Belohnung unserer Aktivitäten folgt oft das Verlangen, nach immer stärkeren Reaktionen und Reizen. Das Swipen, Liken, Chatten sorgt für einen kurzfristigen Dopamin-Kick, den wir lieben. Daher ist es wichtig, auch Alternativen zu diesen kurzfristigen Kicks zu finden.
So verwundert es nicht, wenn im aktuellen Gefährdungsatlas des BzKJ die FOMO (Fear of Missing Out) eine gewichtige Rolle spielt. Auch hier steht den Einschätzungen zu Risiken eine Analyse der Mediennutzungsrealität von Kindern und Jugendlichen voran, um darauf basierend 43 Medienphänomene mit den damit verbundenen potenziellen Gefährdungen aber auch Entwicklungschancen für Kinder und Jugendliche zu beschreiben. Der Gefährdungsatlas ist online downloadbar und enthält nicht nur Warnungen, sondern ebenso viele lohnenswerte Einschätzungen zu Ursachen und Problemlösungen. Und wie wir wissen, sind Kinder und Jugendlich oft sehr kreativ, wenn es darum geht, ihre Probleme zu lösen.
Medienkompetenz in der Netzlosigkeit
Apropos FOMO. Neulich im Wald. Freunde waren für drei Tage im Thüringer Wald in einer Hütte. Kein WLAN. Da die Kinder es schon ahnten, luden sie allerhand Filme vorab auf das Tablet, damit im Wald auch ja keine Unterversorgung stattfinde. Während die Erwachsenen die Abstinenz eher genossen, organisierten die Kinder ihre vermeintlich unentbehrlichen Dinge. Auch das ist Medienkompetenz – und Selbstfürsorge. Sie finden Wege und Lösungen.
Quellen, Lese- und Medientipps
BzKJ – Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (2022): „Gefährdungsatlas“. Digitales Aufwachsen. Vom Kind aus denken. Zukunftssicher handeln. (Aktualisierte und erweiterte 2. Auflage).
https://www.bzkj.de/bzkj/service/publikationen/gefaehrdungsatlas-digitales-aufwachsen-vom-kind-aus-denken-zukunftssicher-handeln-aktualisierte-und-erweiterte-2-auflage–197812 [26.09.2022]
Hamberger, Beatrice (2022): Allzeit bereit oder Digital Detox?
Techniker Krankenkasse, 16.03.2022.
https://www.tk.de/techniker/magazin/digitale-gesundheit/rund-ums-smartphone/digital-detox-tipps-2055434?tkcm=aaus [24.07.2022]
Hummel, Thomas (2017): Sieben Tipps zur digitalen Entgiftung.
In: Süddeutsche Zeitung 28.11.2017.
Online: https://www.sueddeutsche.de/leben/digital-detox-sieben-tipps-zur-digitalen-entgiftung-1.3754567?print=true [24.07.2022]
Klicksafe (2022): Digital Detox.
https://www.klicksafe.de/digital-wellbeing/digital-detox [24.07.2022]
Kreienbrink, Matthias (2022): Digitales Ausmisten:?Gegen das Grundrauschen.
In: taz online 06.01.2022.
online: https://taz.de/Digitales-Ausmisten/!5823624/ [24.07.2022]
kry/dpa (2022): Zwanghafter Nachrichtenkonsum kann mit Gesundheitsproblemen einhergehen.
In: Spiegel Online v. 28.08.2022.
Online: https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/zwanghafter-nachrichtenkonsum-kann-mit-gesundheitsproblemen-einhergehen-a-f7fa03d1-812b-4d48-8313-89d7f39d19ce [30.09.2022]
Lobo, Sascha (2022): Warum TikTok so interessant ist – und trotzdem ein Problem ist.
In: Spiegel Online v. 11.08.2022.
Online: https://www.spiegel.de/netzwelt/web/sascha-lobo-warum-tiktok-interessant-und-trotzdem-ein-problem-ist-a-b09b98ef-1b01-43fd-af9b-b5ad3e09ce70
Newport, Cal (2019): Digitaler Minimalismus: Besser leben mit weniger Technologie. München: Redline.
Muuß-Merholz, Jöran (2022): MOOC „Digitale Achtsamkeit“
https://www.joeran.de/digitale-achtsamkeit-mooc/
Instagram – Das toxische Netzwerk.
Frankreich 2022, Regie: Olivier Lemaire, ARTE Mediathek
https://www.arte.tv/de/videos/095729-000-A/instagram-das-toxische-netzwerk/
Zocken bis der Arzt kommt – Suchtfaktor Computerspiele
Deutschlandfunk Reportage Sabine Adler (17.4.2021)
https://www.deutschlandfunk.de/zocken-bis-der-arzt-kommt-suchtfaktor-computerspiele-dlf-9504e448-100.html
Uwe Breitenborn für die Medienwerkstatt
Foto: MWP/UB