1001 Nacht, eine Wetterfee und ein Geist ohne Oberkörper

22. Oktober 2022

Ein Erlebnisbericht vom 7. Potsdamer Eltern-Medien-Tag am 16. Oktober 2022 im Treffpunkt Freizeit.

Greta kniet auf einem Fliegenden Teppich, breitet die Arme aus und segelt durch die Lüfte, so wie in einem Märchenfilm im Fernsehen. Ein paar Meter vor mir sitzt die 8-Jährige allerdings auf dem Boden, alles um sie herum besteht aus grünem Tuch, eine Kamera ist auf sie gerichtet. „Alles, was grün ist, wird ausgekeyed“, erklärt Matt Sweetwood von der Medienwerkstatt Potsdam die sogenannte „Green Box“ oder den „Green Screen“. Jeder denkbare Hintergrund wird einfach eingeblendet: die Mondlandung, ein Berggipfel, ein Ufo, der Fliegende Teppich mitsamt Wolken oder die Wetterkarte. Die findet Clara spannend – während Matt sie heranzoomt und größer macht, übt die 9jährige das Aufsagen von Schnee in Hamburg und Sonne in Berlin – und schon verstehe ich, wie die Tagesschau und manche Tricks im Fernsehen funktionieren. Die Software dazu sei das Open Broadcast Studio und als Open Source kostenfrei zu haben, erklärt mir Matt. Nur die Video Capture Card koste zwischen 50 und 500 Euro. Aber warum ist der Hintergrund eigentlich grün und nicht blau oder rosa? Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Grün tragen die wenigsten Menschen, darauf kann man also am einfachsten verzichten. Und wie zum Hohn kommt der kleine Ole mit einem grünen Shirt an, stellt sich vor die Kamera – und wird zu einem Geist ohne Oberkörper, aber mit Händen und lachendem Gesicht.

Ich komme mit Gretas Vater ins Gespräch. „Ich bin hier beim PEM, weil ich in fünf Jahren nicht mit gemobbten Kindern dasitzen will“, sagt Martin mit Blick auf seine beiden Töchter, 6 und 8 Jahre alt. „Was digitale Medien betrifft, hänge ich hinterher und ich finde, dass in der Schule gar nichts passiert. Die Schulcloud liegt brach, und die Rechner im Hort sind nur zum Spielen da. Ein Fach Medienkompetenz wäre so wichtig.“

„Pong“ katapultiert mich ins Kinderzimmer meiner Freundin zurück

Ich bummele weiter durch den Gang im Treffpunkt Freizeit. In einer Ecke sind uralte Rechner mit tiefer Bildröhre aufgebaut, mit Videospielen aus den Anfängen der Siebziger bis Neunziger Jahre. Verzückt entdecke ich das Spiel „Pong“, das mich als Zwölfjährige vor motorische Herausforderungen stellte: eine Trennlinie in der Mitte, zwei Balken, und man steuert den Ball abwechselnd ins andere Feld. Vor dem Atari sitzen zwei Kids und komischerweise finden sie das auch nach ein paar Minuten noch nicht öde. Hier wird auch das Videogame River Raid von 1982 gespielt, das zwei Jahre später wegen angeblicher Kriegsverherrlichung verboten und erst 2003 wieder zugelassen wurde. Vor den heutigen Ballerspielen wie Fortnite und Battle Royale nimmt sich das animierte Flugzeugsymbol geradezu harmlos bis niedlich aus – so ändern sich die Sehgewohnheiten.

Spiele zum Anfassen verbinden Jung und Alt

Im großen Bühnensaal sind lauter Tische aufgebaut, daran sind Alt und Jung in überdimensionale Holzspiele vertieft, sie würfeln, zielen, ziehen und haben offensichtlich viel Spaß miteinander. Ich schaue einem Vater und seiner Tochter zu, da werde ich sogleich eingeladen, mitzumachen: bei einem Brettspiel wie eine liegende Zielscheibe, bei der man Holzscheiben per Fingerschnippen in die Mitte schießen muss. „Die Holzspielzeuge sind faszinierend“, sagt Vater Sascha, „etwas zum Anfassen, ganz simpel, und es hat so etwas Verbindendes.“ Toll findet Sascha auch die alten Computer im Flur, während sein Sohn mit der Grafik nichts mehr anfangen könne. Auch die Mutter Friederike findet den PEM großartig, besonders das Podcaststudio der Medienwerkstatt: „Um Kindern eine Stimme zu geben und auch gerade für Mädchen, damit sie Vertrauen in ihre Stimme bekommen.“


Das Team des Potsdamer Eltern-Medien-Tages 2022.

Kassette und Bleistift? Meine Sternstunde im Quiz!

Auf der Empore läuft das Quiz Kahoot!, angeleitet von Tobias aus der Medienwerkstatt Potsdam. Hier können Eltern und Kinder gegeneinander antreten, wer weiß am meisten über die digitale Welt? Da meine eigenen Kinder heute (leider!) etwas anderes vorhatten, sehe ich mich suchend nach Kindern um, die ich mir „ausleihen“ kann und werde in Jérôme (12) und seiner Mutter Joceline fündig. Das Tolle daran ist, dass wir einfach so per Handy mitspielen können, Code eingeben, Teamnamen wählen und schon geht es los. Welche Haarfarbe hat Rezo? Blau. Seit wann gibt es Instagram? 2010. Wie heißt das meistgespielte Videospiel? Fifa 22. Wie heißt die Plüschfigur aus dem PC-Game „Poppy Playtime“? Huggy Waggy. Bevor Joceline und ich auch nur anfangen können zu denken, hat Jérôme schon die Antwort eingegeben – es geht auch um Schnelligkeit bei den vier Antwortmöglichkeiten. So kämpft sich unser Team „Türkische Pizza“ (auch hier war Jérôme der Schnellste in der Namensgebung) auf Rang 1. Als eine Kassette mit einem Bleistift erscheint und dazu die Frage: „Was macht man damit?“ stutzt Jérôme. Seine Mutter und ich sehen unsere Sternstunde gekommen und jubeln „Bandsalat aufwickeln! Schnell, tipp ein!“

„Wir haben früher viel mehr draußen gespielt!“

Das hat großen Spaß gemacht. Wir Mütter, beide in den siebziger Jahren großgeworden, beide haben wir Söhne im Alter von zwölf Jahren, verstehen uns schnell. Die Jungs zocken in ihrer Freizeit gerne, man selbst fühlt sich machtlos gegen den PC, will es aber auch nicht ganz verbieten – das Kind soll ja nicht ausgeschlossen werden. „Ich fühle mich komplett allein gelassen“, gesteht Joceline. „Bei Fortnite wurde er aggressiv, und auch wenn ich weiß, wie man die Safety-Einstellungen vornimmt – er weiß, wie man diese umgeht.“ Die Erziehungsberatung hier auf dem PEM habe sie schon wahrgenommen und will weiter dranbleiben. Und Jérôme? Der hört sich die Tirade seiner Mutter gelassen an. „Ich spiele gar nicht mehr Fortnite, ich spiele jetzt Minecraft, Baloons Tower Defense VI – aber ich lese auch viel, ich mache Sport, Kajak und Capoeira. Ich glaube, meine Mutter macht sich zu viele Sorgen.“ Ich fühle mich ertappt. Wie Joceline wünsche auch ich mir, mein Sohn würde mehr rausgehen, draußen spielen und nicht so lange vor dem Computer hocken. In Gedanken sehe ich meinen Sohn die Augen verdrehen, die alte Leier kann er nicht mehr hören.

Chill mal, Mama! Die X-Box führt nicht gleich zu Bewegungsmangel

Zeit für die Eltern-Wellness-Lounge. Ein goldener Vorhang nimmt mich auf, ich tauche ein in eine ruhige Oase, im Treppenaufgang hängen Klebezettel mit Denkanstößen wie „Schlafen oder zocken“ „Was stresst?“ oder „Flugmodus nur am Airport? oder „Wer bestimmt deinen Tagesablauf?“ Um das Credo „Digital Detox“ zu untermalen, haben sich Uwe und Sabine von der Medienwerkstatt Potsdam in weiße Anzüge wie Kammerjäger gehüllt, mit Giftflaschen bewaffnet, um Computerviren zu killen? Oder zu viel Medienkonsum? Da ihre Beratung von vielen Eltern beansprucht wird, lasse ich mich in einen der Liegestühle fallen und sinniere anhand der Klebchen über den Medienkonsum meiner Kinder. Kurz zuvor habe ich die Beratung von Jan-Simon von der Fachstelle für Konsumkompetenz Chill Out wahrgenommen. Ist es normal, wenn meine Tochter die Playlist rauf und runter hört und dabei nur malt oder knetet? Sie wünscht sich eine Switch – landet das Ding nicht in einem halben Jahr in der Ecke? Sie soll doch lieber lesen! Und rausgehen! Wir haben doch schon eine X-Box – reicht das nicht? Der 21-Jährige hatte wirklich kluge Einwürfe, zum Beispiel die Empfehlung des Spieleratgebers NRW oder Hinweise zu Klicksafe und Handysektor. Was fürchte ich eigentlich genau? Mangel an Bewegung und Fantasie. Kurzsichtigkeit, schlechte Augen. Warum sind beide Kinder eigentlich nicht mitgekommen? Meine Zehnjährige hat Englisch-Vokabeln gepaukt, Schlagzeug geübt und ist dann zu ihrer Freundin gegangen. Mein Zwölfjähriger hat sich das Tablet geschnappt und ist zu seinem Schulfreund gefahren, um für Erdkunde einen Film zu drehen. Sie sollen Erdbeben erklären und wollen das anhand einer sogenannten Simple Show mit Zeichnungen und Tonaufnahmen erklären – wie sie das im Feriencamp der Medienwerkstatt im letzten Jahr gelernt haben. Das Medium also kreativ einsetzen – besser geht es doch gar nicht! Also, chill mal, ermahne ich mich selbst. Solange deine Kinder noch andere Hobbys haben, Freunde treffen und in der Schule gut mitkommen, gibt es keinen Grund zur Sorge. Das hast du doch gerade Joceline und ihrem echt coolen, medienkompetenten Sohn erklärt!

Käfer im Tablet und ein Eisbär-Tanz zu Beethovens Sonate

Zufrieden verlasse ich die Wellness Lounge, gehe an der Station „Digitales Kinderzimmer“ vorbei, erhasche einen Blick auf eine watschelnde Roboterente am Boden und sehr viele Eltern mit ihren kleinen Kindern, und erreiche den Raum für „Augmented Reality“ und „Virtual Reality“. An die Wand ist das Innere der ISS Raumstation projiziert, daneben – im wahren Leben – probiert ein Mädchen mit „Toaster“ vor den Augen, der VR-Brille, und mit Sensoren an den Händen aus, sich in diesem virtuellen Raum zu bewegen. Greifen, eine Videokassette einschieben – das scheint nicht so leicht zu sein. Aber so faszinierend, dass ich vergeblich auf meine Chance warte, in diese vierte Dimension zu schlüpfen. Dann probiere ich eben die Augmented Reality aus. Auf Malblättern kann man Schmetterlinge oder Käfer bunt anmalen, zudem ist ein QR-Code für die App aufgedruckt. Und nun? Kristin Ehlert von Young Images hilft mir, nimmt ein Tablet, drückt es mir in die Hand. Einfach draufhalten? Ja. Da schlüpft – auf dem Screen – ein dreidimensionaler Käfer aus der Zeichnung, erst weiss, dann wird er farbig und zwar genau in den Mustern, wie ich ihn angemalt habe! Ich bin wirklich fasziniert. Und dann krabbelt das Viech sogar los! Das muss ich unbedingt meiner Tochter zum Geburtstag schenken.

Die anderen Apps beleuchten den menschlichen Körper oder erwecken Musikinstrumente zum Leben. Für meinen virtuellen Besuch im Opernhaus setze ich mir die Kopfhörer auf, doch als ich mit Tablet auf Armeslänge gehalten wie angewurzelt stehenbleibe, lacht Kristin. Daran erkenne man sofort den Unterschied zwischen Eltern und Kindern, die nämlich würden den vorgegebenen Schwüngen auf dem Tablet in natürlicher Weise folgen. Aha! Gesagt, getan. Ich schwinge nun das Tablet nach Anleitung einer Notatur im Takt zur Musik, komme mir etwas doof dabei vor, aber zum Glück schert sich hier keiner um meine zögerlichen Schritte. „Das hat etwas Meditatives, nicht wahr?“ ruft Kristin begeistert. Nun ja, ich komme mir eher so ungelenk vor wie ein auf einer Scholle herumtapsender Eisbär. Es geht eben doch nichts darüber, selbst Musik zu machen. Dennoch kann sich eine Lehrerin vom Leonardo da Vinci Campus in Nauen für die fortschreitende Digitalisierung begeistern: „Wir als Lehrer sind gezwungen, den Unterricht anzupassen. Die Kinder kommen ohnehin mit all dem, was sie gesehen oder ausprobiert haben. Augmented Reality kann ich mir in den Klassen gut vorstellen, vor allem in Kunst, Musik oder LER.“

Das Fazit halte ich kurz: Ich komme wieder, und das nächste Mal mit den Kindern!

Annette Weiß für die Medienwerkstatt

Fotos: MWP|Köppelmann|Parthum|Breitenborn

Einen Podcast zum diesjährigen PEM findet ihr bei Young Sounds: „PEMMM!…der special zum PEM 2022“
https://youngsounds.medienwerkstatt-potsdam.de/sendungsarchiv/pemmm-der-special-zum-pem-2022